Glaube und Ideologie

In diesem Jahr sind es vierzig Jahre her, als der Neomarxismus über Deutschland fiel, wie ein Tsunami Dämme zerbrach und in der Gesellschaft viel Zerstörung hinterließ. Selbst in Kirchen waren Synoden, Bischöfe und Theologen gegenüber ideologischen Angriffen hilflos. Jugendarbeit brach an vielen Orten zusammen, weil deren hauptamtlichen Leiter zwar wissenschaftlich geschult, aber nicht fest im Glauben verwurzelt waren. Eine Unterscheidung von Glaube und Ideologie hätte hier helfen können, aber es gab sie damals nicht. Wie wird man ideologieresistent? Mich hat meine eigene Geschichte dazu gebracht. Als der Krieg endete war ich 15 Jahre alt, und im nationalsozialistischen Geist aufgewachsen. Mit meinen Altersgenossen glaubte ich an den Führer, der sich als Idealist verstand. Wie leicht hätte ich den Heldentod sterben können und war froh, als ich überlebte. Viele andere und ich schworen uns, nie wieder auf Ideale hereinzufallen. Wir wurden die skeptische Generation genannt. Leider fehlten uns theoretische Voraussetzungen, wie sie viele Jahre später Karl Popper lieferte in seinem Werk: "die offene Gesellschaft und ihre Feinde". In der Restauration der Nachkriegsjahre feierte der Idealismus fröhliche Urständ und bot den Achtundsechzigern günstigen Nährboden bei der nachfolgenden unbefangenen Generation. Ideologien sind Denksysteme und beruhen auf menschlichen Ideen. Sie kommen in der Wirklichkeit nicht vor, sind aber in der Welt weit verbreitet. Christen müssen prüfen, wie sich ihr Glaube von Ideologie unterscheidet. Sie tun sich schwer damit, weil ihnen eingeredet wird, ihr Glaube sei Ideologie. Von ideologischer Seite - und die ist weit verbreitet - ist das verständlich: denn Ideologen kennen und verstehen nichts anderes als ideologisches Denken. In Deutschland wird es seit Jahrhunderten über Universitäten und Schulen geübt und verbreitet. In Verkennung von Wirklichkeit hat ideologisches Denken und Handeln großen Schaden angerichtet.

Wie weit dieses Unverständnis christlichen Glaubens geht, war im Bundestag zu sehen, als Norbert Blüm sagte " Marx ist tot - Jesus lebt". Ihm wurde von linker Seite mit Hohngelächter geantwortet. Ideologen im Bundestag hatten nichts verstanden. Norbert Blüm aber hatte Recht.

Christen glauben an den lebendigen Gott und an den auferstandenen Christus. Im Abendmahl feiern sie Gemeinschaft mit Jesus und untereinander. Betend reden sie mit Gott wie mit einem lieben Vater und zu Tisch beten sie "Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast". Ich habe noch nie gehört, daß einer betet: Komm, Karl Marx, sei unser Gast. Segnen tat er ohnehin nicht. Für Juden war Gott auf diese Weise lebendig aber unfaßbar. Im zweiten Gebot war ihnen verboten worden, Gott abzubilden. Sie erlebten Gott in gemeinsamer Geschichte; aber sie trauten sich nicht einmal, ihn mit Namen zu nennen. Unter dem Einfluß griechischer Philosophie änderten Christen das zweite Gebot und bildeten ihn ab. Anstelle des lebendigen Gottes machten sie sich ein Bild von Gott. Ideen sind Bilder anstelle von Wirklichkeit. Das gab damals einen gewaltigen Streit. Christen wurden anfällig für Ideologie und sind es bis heute geblieben.

Eine Einbruchsstelle ist ihre Ethik, eine andere ist Theologie. Christliche Werte werden irrtümlich als Ideale gesehen. Aber christliche Werte sind Früchte des Glaubens. Consecutiva evangelii, wie die alten Lutheraner sagten. Sie entstammen gelebter Liebe und beziehen daraus ihre Kraft. Ohne Liebe sind sie tot. Paulus schreibt im ersten Brief an die Korinther im dreizehnten Kapitel sinngemäß: Ohne gelebte Liebe sind Werte nichts nütze. Jesus hat keine Ethik gelehrt und keine Werte verkündet, sondern Liebe. Viele gelehrte Christen beachten das nicht und reden von Ethik. Sie ist schnell am Ende, wenn ihre Voraussetzung, lebendige Liebe, nicht vorhanden ist. Ethik ohne Liebe läßt einen ausgebrannt zurück. Liebe kann man nicht machen. Sie ist ein Geschenk Gottes. Aber Liebe kann man kaputt machen, wie einer Lebendes töten kann..

Dem lebendigen Gott und dem auferstandenen Christus entspricht der lebendige Nächste. Ihn sollen wir lieben wie uns selbst. So sagt es schon das Alte Testament in der Zusammenfassung der Zehn Gebote. Jesus hat nie von Nächstenliebe gesprochen. Das Wort Nächstenliebe entstand unter dem Einfluß griechischer Philosophie. Wie das Wort Mutterliebe ist Nächstenliebe eine Verallgemeinerung; denn Mutterliebe gibt es nur als abstrakten Sammelbegriff. In Wirklichkeit gibt es nur die Liebe einer Mutter zu ihrem konkreten Kind. Jesus heilte und wird Heiland genannt. Heilen kann nur, wer sich auf einen konkreten Menschen bezieht. Jeder tüchtige Arzt weiß das und jeder kluge Seelsorger auch. Darum sprach Jesus nie von Nächstenliebe. Viele Theologen sind durch ihre klassische Schulbildung von griechischem Denken so beeinflußt, daß sie diesen Unterschied häufig nicht wahrnehmen. Theologie als andere Einbruchstelle wird von dem Philosophen Karl Popper als Symptom des Unglaubens bezeichnet ( in: Ausgangspunkte S. 18 "Theologie ist, so glaube ich noch immer, ein Symptom des Unglaubens.) Wie Reden über Liebe keine Liebe ist, so ist Theologie - als Reden über Glauben - kein Glauben. Wie Philosophie arbeitet Theologie mit Verallgemeinerungen. Sie helfen nicht und bereiten nachdenklichen Menschen Unbehagen.

Unter Soldaten in Todesgefahr bedeutet Kameradschaft sehr viel. Wenn jemand, der diese Todesgefahr nicht mit ihnen teilte, von Kameradschaft sprach, empfanden sie dessen Reden von Kameradschaft als hohle Phrase und antworteten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs: Kameraden sind bei Stalingrad gefallen. Ähnlich ist es mit Solidarität. Sie bedeutete viel unter Arbeitern des neunzehnten Jahrhunderts und in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs. Wenn heute von Solidarität geredet wird, hören viele es nur als leere Worthülse.

In keiner Ideologie gibt es den lebendigen Nächsten als höchsten Wert, sondern nur Ideen. Von Jesus sagte man, daß er gewaltig predigte und nicht wie die Schriftgelehrten. Er benutzte keine Verallgemeinerungen, sondern er sprach konkret zum lebendigen Nächsten. Je mehr Christen sich des Unterschiedes von Glauben und Ideologie bewußt sind, desto wirksamer können sie in dieser Welt handeln und helfen.

Von Ideologen können sie kein Verständnis erwarten. Denn diese verstehen nichts anderes als Ideologie und können weder mit dem lebendigen Gott, noch mit dem lebendigen Nächsten etwas anfangen. Jesus lehrte seine Jünger, mit Gott konkret umzugehen, ihn als lieben Vater anzusehen und schuf das Vaterunser.

Es birgt in sich die Gefahr der Verniedlichung. Wer kennt schon seinen Vater, oder wer kennt den Nächsten? Wir machen uns Bilder von ihnen, aber diese Bilder sind nicht identisch mit den abgebildeten Personen. Sie sind ganz anders. Wie wenig wissen wir von ihnen, wie sie fühlen, wie sie handeln? Nehmen wir wahr, ob sie sich uns öffnen, wenn wir mit ihnen reden? Wenn sie uns lieben, verstehen wir sie noch lange nicht und erschrecken, wenn wir Seiten an ihnen erkennen, die uns vorher verborgen waren.

Wenn das bei Menschen schon so ist, ist Gott als lieber Vater umso mehr unverfügbar, sondern er selbst verfügt und offenbart sich in seiner Liebe, und Menschen verfügen nicht über ihn. Auch als lieber Gott bleibt er heilig, das heißt: unverfügbar. Heilig hat nichts mit Moral zu tun. Moral ist verfügbar, indem wir moralisieren. Wer heilig mit Moral verbindet, tabuiert nur, aber er heiligt nicht. Ideologen kümmern sich nicht um den Nächsten, sondern nageln ihn an das Kreuz ihrer Ideologie. Bezeichnend dafür ist die Keunergeschichte von Brecht, wo Her Keuner gefragt wird, was er täte, wenn er einen Menschen liebte. Er antwortete: "Zunächst mache ich einen Entwurf. Und dann gleiche ich ihn an." "Wen, den Entwurf?" "Nein, den Menschen."