Siebzig Jahre Volksliedersingen

Beobachtungen und Erfahrungen

Seit siebzig Jahren singe ich und beobachte, was beim Singen geschieht. Als Kind sang ich mit meiner Mutter und mit zwei Geschwistern, später mit anderen Kindern. Bei den Pimpfen und in der Hitlerjugend wurde viel gesungen. Dort lernte ich die verheerende Wirkung von Hetzliedern kennen. Im alten "Kilometerstein" des Voggenreiterverlages sind einige zu finden. Nach dem Krieg sang ich mit Pfadfindern. Wir sangen zur Gitarre, ohne Noten und auswendig. In meinen Gruppen wurde nicht gegrölt. Unsere Lieder waren Ausdruck von uns selbst. Wenn sie in der Schule gesungen wurden, empfanden wir sie als "entweiht", weil Schulklassen häufig mißgestimmt singen. Wir sangen die Lieder so gut wir konnten, aber wir probten nicht wie im Schulchor. Unser Singen war archaisch und völlig unakademisch. Wir sangen wie unsere Vorfahren vor tausend Jahren und nicht wie in der Schule. Viel später entdeckte ich, daß wir dem Volkslied sehr nahe waren. Es wurde nicht am Notenpult komponiert.

Sänger haben in der Regel ein gut ausgebildetes Zwerchfell, das ihren Atem unterstützt und die Tongebung beeinflußt. Über weite Entfernungen verständigt man sich nicht durch Sprechen, sondern durch Gesang. In meiner Jugend hörte ich Straßenhändler ihre Waren singend darbieten. Auch Schornsteinfeger sangen ihre Termine aus. Sprechend hätten sie es nicht gekonnt.

Volkslieder gab es, bevor Menschen schreiben und lesen konnten. Sie wurden gesungen, um glücklich zu sein. Ehrgeiz von Chören und von ihren Dirigenten schadet Sängern; denn Ehrgeiz macht nicht glücklich. Bei Singewettstreits und bei Schallplattenaufnahmen habe ich es oft miterlebt. Wer mit Anderen zusammen singt, muß auf sie hören, bevor es klingt. Es dauert mehrere Lieder, bevor eine Gruppe eingesungen ist. Wie das geschieht, ist den Singenden nicht bewußt. Lieder wollen frei heraus gesungen werden. Wer auf Noten achten muß, kann sich nicht Anderen zuwenden und bleibt bei sich selbst. Der Text der Lieder ist wichtiger als die Melodie. Wer Strophen schematisch absingt, zerstört den Sinn des Gesangs. Daran leidet die Darbietung vieler Volkslieder. So haben Kinder Volkslieder schematisch geleiert, weil sie deren Texte noch nicht verstehen konnten. In der Bündischen Jugend wurden Natur- und Liebeslieder durch heldische Texte ausgetauscht, weil Jungen von Liebe nichts wissen wollten. So wurde aus dem schwedischen Frühlingslied "Varwinda friska leka" ein Heldengesang.

Von Chören vorgetragene Volkslieder leben nicht, wenn sie nicht mitgesungen werden. Ein Vortrag ist kein Volkslied. Nur, wenn ich es selber singe, lebt ein Volkslied. Das ist eines der beiden Kennzeichen eines Volksliedes. Das andere Kennzeichen ist: Der Sänger muß im Lied mit seinen Empfindungen vorkommen. Das unterscheidet Volkslieder von Propagandaliedern und von Kampfgesängen, deren Inhalte meist von außen aufgesetzt sind.

Wesentlich am Lied ist der Text. Alle guten Sänger gestalten ihren Gesang von den Worten her und nicht von der Melodie. Erst, wenn der Sinn erfaßt und dargestellt ist, wird ein Lied lebendig. Sonst ist es schematisch und langweilig. Dann lebt es nicht, sondern es stirbt wie ein langweiliges Gespräch. Wer aber hat so singen gelernt? Kleine Kinder bekommen "Alle meine Entchen" vorgeplärrt und machen ihr Leben lang so weiter, wenn nicht jemand kommt und es anders zeigt. Im Singen ihrer Lieder zeigen Gruppen, daß sie glücklich sind. Wer früher in Jugendgruppen war, hat als schönste Erinnerung das Glück gemeinsamen Singens.

Dabei drücken Volkslieder auch Trauer aus und verarbeiten sie, so daß Trauernde wieder gesund werden, indem sie Verlorenes loslassen. Mitsingende helfen; denn Trauer kann nicht allein verarbeitet werden, sondern in einem Netzwerk von Beziehungen. In Trauerseminaren habe ich bewußt damit gearbeitet und erlebt, wie Trauernde losließen und gesund wurden. Meine Meditationen halfen, den Sinn der Lieder zu verstehen. Über Volkslied und Trauer habe ich ausführlich an anderer Stelle berichtet. Oft habe ich mit Altenkreisen gesungen und erlebt, wie alte Menschen in einer Sinntherapie, wie Frankl sie beschreibt, wieder jung wurden. Ohnehin sehen ältere Menschen um Jahre jünger aus, wenn sie eine Weile miteinander gesungen haben. Sehr nachdenklich machen Alzheimerkranke, die beim Volksliedersingen mitmachen, während ihnen sonst die Umwelt nicht zugänglich ist. Volkslieder müssen ganz tief in ihnen verwurzelt sein.

Psychotherapeuten wie Sigmund Freud und viele andere sehen als Ziel ihrer Therapie, daß Menschen wieder im Hier und Jetzt leben, daß sie da sind. Das geschieht bei Menschen, die miteinander singen Wenn ich morgens aufwache und aus dem Fenster schaue, singe ich mit Goethe : "Wie herrlich leuchtet mir die Natur, wie lacht die Sonne, wie glänzt die Flur", und fühle mich glücklich. So geht es mir auch bei Liedern, wenn ich sie zusammen mit vielen anderen auf dem Aschberg oder anderswo singe. Singen heilt. Singende haben ihre Wahrnehmung geschult und achten auf Dinge, die andere nicht sehen, ähnlich wie Aborigenes in Australien Dinge sehen und hören, an denen Europäer achtlos und stumpfsinnig vorüber gehen, weil europäisches Denken deren Wahrnehmung nicht zuläßt.

Seit der Aufklärung steht das Individuum im Mittelpunkt. Aufklärung ist nach Immanuel Kant Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Sie hat das Ich gelehrt, sein Schicksal zu meistern und über sich selbst zu bestimmen. Aber Aufklärung kennt kein Du, kennt nicht den Nächsten, hat das Individuum einsam gemacht und beziehungslos. Im gemeinsamen Singen sind wir wieder mit Anderen zusammen, ohne zu wissen, wie das geschieht. Wir sind glücklich. Wir sind da. Wir sind zusammen und wir sind eins.

Das geschieht leider nicht mehr von selbst, wie vor Tausenden von Jahren. Mit dem Aufkommen von Radio, Tonträgern und Fernsehen lassen sich Menschen berieseln, sind nicht mehr selbst aktiv und verlieren die Fähigkeit, den anderen Menschen wahrzunehmen. So entstand die Behauptung, das Volkslied sei tot. Dagegen spricht das jährliche Aschbergsingen jeweils am letzten Freitag im Juli. Es ist in zweiundzwanzig Jahren von sechzig auf siebenhundert Sänger angewachsen. Viele von den Mitsingenden waren früher in Jugendgruppen gewesen. Die Mitsingenden haben Texthefte, ich begleite sie mit der Gitarre und gebe Hinweise, wie die Lieder gesungen werden wollen. Die vielen Menschen singen, ohne daß jemand dirigiert und hören aufeinander. Deutsches Volkslied war in die Hände von Menschen geraten, die sich über die Eigenart des Volksliedes wenig oder gar keine Gedanken gemacht hatten. Ihr Vortrag wurde durch Massengeschmack verkitscht, so daß Jugendgruppenn sich vom deutschen Volkslied zurückzogen und sich Liedern anderer Völker zuwandten, die noch unverbraucht erschienen. Skandinavien, Rußland und der Balkan bieten wunderbare Volkslieder, die von ihnen gern gesungen wurden. Bürgerliche Musikkultur machte Volksliedsingen verächtlich und schätzte Kunstfertigkeit mehr als Glücklichsein, Da-Sein, Zusammen-Sein und Eins-Sein. Dabei hatten unsere größten Dichter und Komponisten vor Volksliedern Hochachtung. Eichendorf, Goethe, Claudius, Heine, Storm, Mozart, Schubert, Schumann, Brahms, Mendelssohn und Bartok haben Volkslieder geschrieben oder vertont. Angesichts solcher Größen ist Geringschätzung gegenüber Volksliedern unangebracht. Berühmte Opernsänger haben vor Volksliedern gehörigen Respekt.

Volkslieder werden tot gesagt, weil sie gegenüber Schlagern in Radio und Fernsehen selten zu hören sind. Der Musikbetrieb ist kommerziell. An Schlagern wird Geld verdient, an Volksliedern nicht, weil sie selbst gesungen werden müssen. Stattdessen gibt es sogenannte Volksmusik. An ihr läßt sich kräftig verdienen. Schlager können sehr gut sein und zu Herzen gehen, wenn man sie selbst singt. Sonst werden sie nicht lebendig.

Gut Singen habe ich nicht in der Schule gelernt, und es lag nicht immer an den Lehrern, sondern auch an Mitschülern. Richtig Singen lernte ich nicht in der Gruppe, sondern viel später, als ich von begabten Künstlern unterrichtet wurde.

Am stärksten beeinflußt hat mich Walter Gerwig, der in den fünfziger Jahren die Bachsuiten für Laute bei der Archiv-Produktion der deutschen Grammophongesellschaft eingespielt hatte. Als Wandervogel fing er mit der Klampfe an und wurde zum bedeutendsten Lautenspieler Deutschlands. Er befreite mich mit seinen durchdachten Liedbegleitungen vom schematischen "Schrumm-Schrumm" bündischer Klampfer. Dazu lehrte er uns, auf die Interpretation der Texte zu achten.. Volkslieder wollen auswendig gesungen werden. Das war Jahrhunderte so. Papier war teuer. Lesen und Schreiben konnten nur wenige. Bei der Arbeit hatte man keine Hand frei, um Liederbücher zu halten. Abends bei Kerzenschein konnte man nicht lesen, aber man wandte sich einander zu, sang auswendig und miteinander. Beim gemeinsamen Singen sangen wir Gefühle heraus, die einer allein vor anderen nie gesagt hätte und befreiten uns.

Als es noch kein Radio und Fernsehen gab, sang man Volkslieder und war aktiv. Selber Singen ist wie selber Küssen. Gemeinsames Singen bewirkt Identität. Glückshormone werden frei und stimmen froh. Heute läßt man sich unterhalten.

Volkslieder werden lebendig, wenn sie gemeinsam mit Anderen selbst gesungen werden. Erst dann erleben wir, was sie einem geben, ähnlich wie ein Gespräch, das durch Zuhören, Fragen und Antworten erst schön wird. Singen in der Gruppe auf alte Weise ist dazu eine gute Vorbereitung.